Ruhrgebiet?
Emschergebiet müßte es heißen. Denn mitten durch den Kohlenpott mitsamt seinen Stahlschmelztiegeln fliest nicht die Ruhr, doch die Emscher. Das Bett kanalisiert, das Wasser schwärzlich – trotz der Landschaftsidylle in Dortmund-Dorstfeld ist unverkennbar: Die Emscher ist der Industrielandschaft verbunden und ihr unterworfen wie kein Gewässer sonst in Deutschland - was ihr Ruch und einen ganz besonderen Reiz gibt.
Manchmal zieht es sie übern Deich, raus aus ihrem steinernen Bett, in dem sie sich nicht winden und nicht schlängeln kann. Dann stößt sie einen Hauch aus, einen Seufzer von Duft, der die Böschung hinauf in die Gärten kriecht. Die Leute auf den Campingstühlen schneiden angewiderte Grimassen, die Kinder kichern und halten sich die Hände vors Gesicht. Ein Windstoß – und alles ist verflogen.
Nur selten geschieht es, daß der Seufzer die Nase eines Dichters erreicht, wie vor drei Jahren an einem Sommerabend in Castrop-Rauxel. Der Dichter saß am Tresen - da strich es durchs Fenster und legte sich, aufs Gemüt, eine Stimmung packte ihn zwischen Melancholie und Galgenhumor, und Rudi Grabowski schrieb ein Lied: an die „kleine Schwatte", ihr dunkles, ölglänzendes Kleid, ihre sanften Linien, ihren strengen Duft... Es wurde das erste und einzige Liebeslied, das je für einen Abwasserkanal gesungen wurde, zum 1150. Bestehen der Stadt Castrop-Rauxel.
Mir war nicht nach Lyrik zumute, als ich die Emscher zum ersten Male roch. Aber ich erinnerte mich an ein Kinderspiel. Es hieß „Immer am Bach lang", und wir hatten es in den Ferien erfunden, weit weg vom Kohlenpott auf dem Land, wo es noch richtige Wildbäche gab. Die erste Regel ist einfach: Man muß einen Wasserlauf von der Quelle an verfolgen, ohne vom Ufer abzuweichen, ohne Rücksicht auf Gestrüpp, Stacheldraht oder schimpfende Bauern. Warum nicht mal „an der Emscher lang", dachte ich. einfach der Nase nach, von einem stinkenden Abwasserrohr zum nächsten. Tatortbesichtigung per Geruchssinn, feststellen, wer die Giftsuppe einbrockt, die der Emscher Tag für Tag den Garaus macht.
Die zweite Regel wollte ich freilich außer Kraft setzen, Nach ihr muß. wer sich vom Ufer abbringen läßt, zur Strafe hundert Meter durchs Bachbett waten, barfuß natürlich.
Aber dazu fehlte mir der Mut. Zu deutlich sieht man der Emscher an, was in ihr steckt, ob sie nun rostrot, faulbraun oder kohlschwarz dahinströmt, ob sie ölbunt schillert oder persilweiß schäumt.
Hier haben die Menschen das Bibelwort „Macht euch die Erde untenan" einmal bis zum letzten Buchstaben erfüllt und eine kristallklare Kurvenschönheit der Länge nach in einen Jauchekanal verwandelt. Was immer zwischen Dortmund und Duisburg an flüssigem Unrat produziert worden ist -„ab damit inne Emscha". Dank der Emscher sind sie alle ihre Abwasser-Sorgen los, zusammen 354 Bergwerksgesellschaften, Fabriken und Kommunen, 2,4 Millionen Einwohner. Aber sie vergelten es ihr nicht. Im Gegenteil, sie verschweigen sie einfach.
Wenn es mit Gerechtigkeit zuginge in der Geographie, müßte das Ruhrgebiet längst „Emschergebiet“ heißen, denn die Ruhr ist nur eine Randerscheinung im Süden, die ihre leidliche Sauberkeit obendrein der Emscher verdankt. Aber alle bedeutenden Institutionen tragen nach wie vor den falschen Namen, den mit Ruhr: das Ruhrlandmuseum, die Ruhrfestspiele, die Rhein-Ruhrhalle in Duisburg und die Ruhrlandhalle in Bochum, der Ruhrzoo, der in Sichtweite des Emscherdeichs liegt, die Ruhrkohle AG, deren Fördertürme schon lange nicht mehr an der Ruhr, aber immer noch in großer Zähl an der Emscher stehen... Und in Holzwickede gibt es nicht einmal ein Schild, das zur Emscher-Quelle weist.
Ich mußte mich lange durchfragen, um an den Ausgangspunkt meines Spiels zu kommen. Gleich vor dem S-Bahnhof wandte ich mich an einen alten Herrn mit Schiebermütze, der aussah, als sei er von hier. „Wo, bitte", fragte ich ihn, „geht es hier zur Emscher?" Zuerst sagte er gar nichts. Er sah mich nur unter seiner Schiebermütze an, halb mißtrauisch, halb belustigt, dann sprach er ihren Namen aus - bedachtig, wie etwas, das einem viele Jahre nicht in den Sinn und über die Lippen gekommen ist: „Die Amm-scha! Jaaa ... die iss aber zimmieh weit wech. Gehn Se ma da lang." Ich folgte der Richtung seines Daumens und fragte weiter, an jeder Straßenecke. Jedesmal das gleiche Schweigen, Mißtrauen, Erstaunen. Manche fragten zurück, fast mitleidig; „Wat wolln Se 'n da eintlich?" Manche kannten sie gar nicht. „Die Emmscha . . . iss dat ne Wirtschaft?" Die meisten waren sich einig, daß sie „zimmich weit wech" sein mußte, auch wenn sie, laut Landkarte, hundert Meter weiter vorbeifloß.
Wenn sie keiner kennt, dachte ich, dann hat sie am Ende überhaupt keine Quelle. Warum sollte dieser Fluß auch auf natürliche Weise entspringen? Wahrscheinlich nimmt er mit irgendeinem Guß in den nächsten besten Gulli seinen Anfang.
Aber ich hatte mich getäuscht. Kurz hinter der Dortmunder Stadtgrenze fand ich sie, an einem Fleckchen, das wie ein rührendes Relikt aus ihrer ungetrübten Vergangenheit wirkte. Ein Tümpel, spiegelglatt, von Grünzeug durchwuchert, von riesigen Kastanien umstanden. Daneben ein Fachwerkgehöft wie aus dem Freilichtmuseum. Unter dem Giebel öffnete sich ein Fenster, und eine alte Westfälin guckte heraus.
..Tja. dat iss de Emschaquelle", bestätigte sie. ,,Dat Wasser iss gut für de Augen, woll, da kommen de Leute von weither mit Flaschen und nehmen sich dat mit!"
Ich sah der Emscher nach, wie sie quirlig durch die Wiesen plätscherte und folgte ihr. „immer am Bach lang", streng nach der Regeln: Mal rechts, mal links um den Baum herum, auch mal über sie hinweg, weil sie unter einer Straße hindurch mußte, vorbei an Pferdekoppeln, Bauernhäusern, einem Kinderspielplatz. Wieder tauchte sie in ein Rohr, ich ging auf die andere Straßenseite, dahin, wo sie wieder herauskommen mußte. Aber sie kam nicht. Nur ein trockener Graben war von ihr übrig.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich, daß sie nach dem ersten Kilometer schon den goldenen Schuß kriegt! Aber ich hatte mich wieder getäuscht, nach 300 Metern kam sie zum Vorschein, als wäre nichts gewesen. Sie ergoß sich in hohem Strahl mitten in einen netten kleinen Park, machte sich sogar zu einem Zierteich breit. Zwei Kinder hockten am Ufer und ließen Papierboote vom Stapel, eine Entenfamilie paddelte vor sich hin, die Emscher war klar und grün und duftete nach Frühling.
Dann war sie schon wieder weg; und als ich sie fünf Gehminuten später wieder traf, hatte sie Farbe und Duftnote gründlich gewechselt. Grau, muffig und reißend schoß sie aus einer Betonröhre hervor. Irgendwo unterwegs muß ihr jemand die letale Dosis eingeflößt haben, heimlich natürlich, im Dunkel der Kanalisation. Vielleicht unter dem Bahndamm, vielleicht unter einem der beiden Hüttenwerke. Sie standen zwischen Wiesen, Weiden und westfälischen Bauernhöfen, als könnten sie kein Wässerchen trüben; ihre Abwässer aber machten einen feuchten Strich durch das ländliche Idyll.
Zwei Pappelreihen haben sich entlang der steinernen Rinne postiert wie eine steife, monotone Prozession von Totenwächtern. Stacheldraht trennt sie vom Rest der Welt, und ein gelbes Schild warnt: „Emschergenossenschaft. Das Betreten des Geländes ist mit Gefahr verbunden und nicht erlaubt."
Es ist an der Zeit, zuzugeben, daß ich das Spiel verloren habe. Natürlich habe ich nicht gleich vor dem ersten gelben Schild kapituliert, immer wie der versuchte ich, an meinen Bach heranzukommen, in Duisburg, in Bottrop, in Gelsenkirchen, in Oberhausen. Aber immer wieder mußte ich kehrtmachen, vor verschlossenen Werkstoren, abweisenden Zechen mauern, bewachten Tanklagern. Ich ließ mich von den Straßen leiten, die ihren Namen tragen, aber keine führte an ihre Ufer. „Immer" an der Emscher lang geht nicht.
Auch der Emscherschnellweg, der sie über Kilometer begleitet, geht beiläufig über sie hinweg. Das blaue Schildchen mit weißer Wellenlinie, ein Bahndamm, ein Deich – dann fliegt, nur eine halbe Sekunde, ein silbriges Stück vorbei, nicht größer als ein Rückspiegel, vergittert und zerstückelt von Brückengerüsten. Mehr ist zwischen Oberhausen und Castrop-Rauxel nicht von ihr zu sehen.
Ich versuchte es wieder zu Fuß, kletterte über Bahndämme, spähte durch Fabrikzäune, irrte stundenlang durch öde Gewerbegebiete, erklomm 120 Treppenstufen, um die B 1 zu überqueren. Fast wurde ich dabei überfahren. Und nach fünf Minuten stand ich wieder vor dem Schild, dessen Text ich mittlerweile auswendig wußte. „Emschergenossenschaft. Das Betreten des Geländes ist mit Gefahr verbunden..."
Dies wäre der Moment gewesen, der Spielregel meines Spiels zu folgen, die Hosen aufzukrempeln und sich über alle Zäune und Verbote hinwegzusetzen.. Ich habe es nicht getan – nicht aus Feigheit oder Bequemlichkeit, sondern aus der Einsicht, daß ich mich dadurch dem unnatürlichen Zwang zum Geradeaus beugen würde, dem die Emscher unterworfen ist. Ich beschloß, mir Abschweifungen und Umwege durch die Landschaft zu erlauben, gelegentlich auch stehenzubleiben und den Menschen über die Schwelle zu treten - genau wie der Ruß es früher tat und heute wieder tun würde, wenn man ihm freien Lauf ließe.
Die Spielregeln habe ich dabei nicht aus den Augen verloren, auch wenn mein Bach immer wieder hinterm Deich verschwand. Ich blieb sogar über weite Strecken siegreich, wie in Dortmund, wo ich neben den Hoesch-Werken eine ,,Emscher-Promenade" entdeckte und zwischen Kleingärten und Güterbahnhof auf dem „Emscherpfad" entlangwanderte. Kurz darauf beging ich meinen ersten geplanten Regelverstoß, Ich blieb stehen; denn ich war auf dem absoluten Tiefpunkt meines Weges angelangt, in Dortmund-Huckarde.
So wortwörtlich heruntergekommen wie das Pumpenhäuschen dort ist sonst nichts im Ruhrgebiet. Seine kuriose Schieferkuppel ragt aus einer Erdmulde heraus wie die Spitze eines versunkenen Kirchturms. 1920 stand es noch 24 Meter höher als heute. Aber dann gruben sie ihm die Kohle unter den Fundamenten weg, körbeweise, waggonweise, ungezählte Güterzüge voll. Mit jedem leeren, einstürzenden Flöz sackte es ab, wuchs dem Pumpenwärter sein Gartenzaun ein paar Meter mehr über den Kopf. Schließlich wurde ihm der Boden unter den Füßen zu heiß; Das Kühlwasser der benachbarten Kokerei strömte auf seinem Weg in die Emscher direkt unter seinem Keller hindurch.
Dieser Pumpenwärter muß ein Muster an Gleichmut und Standhaftigkeit gewesen sein. Unter ihm ratterten die Pumpen, über ihm das Förderband von der Zeche zur Kokerei, um ihn herum wurden Berge versetzt, Dämme errichtet, Müllhalden aufgeschüttet, an seinen Fenstern strömte Giftgas vorbei, in einer der knüppeldicken bis mannshohen Stahladern, die ganze Stadtteile von Dortmund so selbstverständlich durchkreuzen und durchqueren wie Telegrafendrähte... Wie hat der Mensch das bloß ausgehalten? Wie hält das heute noch einer aus?
Denn da saß tatsächlich einer im Garten, die Bierflasche in der Hand und ein paar Hühner zu seinen Füßen. „Faszinierend, diese rostigen Röhren, diese Industrieruinen, diese aufgewühlte Landschaft", sagte er. „Ich betrachte das wie eine Theaterkulisse.'' Hier spricht natürlich ein Künstler.
Er hat diesen Winkel entdeckt, als die Zeche längst tot war, das Förderband still und das Pumpenhaus unter Denkmalschutz stand. Das feine Gespür eines Künstlers für Verfallendes, Geschichtsträchtiges hat ihn hergeführt. „Man müßte hier mal Schliemann spielen", sagte er. „Gehen Sie an die Emscher, da liegen fünf Brücken begraben, eine über der anderen." Die Emscher. Sie ist auf der Höhe geblieben, während alles um sie herum in die Tiefe sackte, Häuser, Fabriken und Brücken, hier zwischen Huckarde und Deusen haben sie von 1920 an alle paar Jahre eine neue gebaut, die beim nächsten Erdrutsch prompt wieder unter Wasser stand. Ich stand auf der obersten und versuchte hinunterzusehen, aber das Wasser war graubraun und undurchdringlich, es gab die Vergangenheit nicht preis. Ich konnte nur im Geiste einen Schacht abteufen, von Brücke zu Brücke. 1974, 1970, 1950, 1938 ,,. Ich grabe noch ein paar Jahr zehnte tiefer, 1890:
Der Fluß steht schwarz und schweiget, längst ist jedes Leben in ihm erstickt. Seit Jahrzehnten schluckt er schon, was immer mehr Zechen, Kokereien, Stahlhütten, immer mehr Menschen ungeklärt in ihn hineinkippen. Fließen kann er nicht mehr, seit die Suche nach dem „schwarzen Gold" jenes schleichende Erdbeben ausgelöst hat, das ebene Flußbetten plötzlich in Berg- und Talbahnen verwandelt. Nach jedem Sommerregen verwandelt sich die Flußaue zwischen Dortmund und Duisburg in eine stinkende Seenkette. Malariamücken schwirren um die alten Gehöfte und die neuen Bergmannskolonien, Thyphus, Ruhr und Wechselfieber grassieren.
Es fehlte nicht viel, und damals wäre die ganze industrielle Revolution im Sumpf erstickt. Was soll man tun? Die Fabriken stilliegen, die Arbeiter wieder dorthin schicken, woher sie gekommen sind, nach Pommern, Ostpreußen, Polen? Nein – man muß diesen Fluß, diesen übelriechenden Rest Natur beseitigen, am besten begraben, in einer unterirdischen Betonröhre. Aber die würde bei der ersten Bergsenkung zerbersten, die Emscher würde sich wieder ihren eigenen Weg suchen.
Um dies ein für allemal zu verhindern, versammeln sich die Zechenbarone, die Stahlbosse, die Bürgermeister der Städte, alle, die einen Beitrag zur Verschmutzung des Flusses leisten, und gründen im Jahre 1904 die Emschergenossenschaft, nach dem „Gesetz betreffend Bildung einer Genossenschaft zur Regelung der Vorflut und zur Abwasserreinigung im Emschergebiet", das bis heute in Kraft ist. Die „Regelung" hat den ganzen Fluß vom ersten Abflußrohr an erfaßt, und das Regeln hat seither nie aufgehört: Fast täglich begegnete ich Bautrupps, die ein paar Meter Emscher neu ausbaggerten, eindeichten, begradigten, befestigten. Die große Reinigung aber, die Klärung, gibt es erst kurz vor dem Rhein; fast alles, was unterwegs einfließt, kann ungestört sein Aroma entfalten.
Die Düfte sind so vielfältig, daß sie neue Regeln für mein Spiel erfordern: Alles, was in die Nase steigt, ist in Worte zu fassen. „Muffig", notierte ich, „faulig, streng, dumpf, ätzend, Krankenhaus, Waschküche, Abfalleimer, Tankstelle ..." In Castrop-Rauxel war mein Wortschatz erschöpft, ich fragte eine Dame, die mir auf der Brücke entgegenkam. „Schäbbich", sagte sie, „finden Sie nicht auch?"
Von Castrop-Rauxel nach Recklinghausen – man braucht das nur einmal langsam vor sich hinzu sprechen, schon krachen im Geiste glühende Stahlbrammen gegeneinander, Schrämmaschinen rattern, Fabriksirenen heulen, Schwefelschwaden ziehen über brennende Kokshalden hinweg. Und alles verstummt, wenn man wirklich von Castrop-Rauxel nach Recklinghausen geht, durch eine Landschaft, die aussieht, als hätte man nie auch nur einen Krümel Kohle unter ihr hervorgeholt: grün, behäbig, friedlich, ein Stück westfälisches Bauernland mitten im Kohlenpott.
Zwischen den Wiesen zieht die Emscher ihre abgezirkelten Kurven, tief zwischen die Deiche gebettet, unsichtbar fast und unnahbar. Der Stacheldraht ist lückenlos. Die Emscher läßt keinen an sich heran.
Ich versuchte trotzdem, ihr auf der Grund zu kommen. Wir saßen um den Gartentisch von Julius Kudusow in der ehemaligen Bergarbeitersiedlung von Recklinghausen-Hochlarmark. Fast alle waren „Ehemalige" und hatten ihre Frauen dabei. Kumpels in Rente waren sie, die 20, 30 Jahre lang auf einer der Zechen rund um Hochlarmark eingefahren waren. Die Zechen sind heute alle tot, die Förderräder stehen still. Dafür donnern jetzt die Lastwagen an der Siedlung vorbei zur Müllhalde Hoppenbruch in Herten. Manchmal klappern die Kaffeetassen auf dem Tisch.
Aber keiner hörte es; denn es war ein Streit entbrannt. „Höchstens eins-zwanzich isse tief", sagte der Steiger Peter Grüter. „Wir sind doch früher immer mitte Klamotten, durch, wenn se uns am Rhein-Herne-Kanal beim Baden erwischt hatten!" „Kannich sein", widersprach sein Nachbar Günther Haak. „Letztens ham die vonne Feuerwehr dat doonoch probiert un sinnichdurchgekomm, obwohl se 'n Seil von eim zum annern Ufer gespann hatten!" Zahlen flogen durch die Luft, einsachtzig, einsfuffzich, einszwanzich, aber keine war sicher. Die Emscher bleibt unergründlich.
Vielleicht ist sie einfach zu weit weg - obwohl sie gleich dort hinter der schwarzen Halde vorbeifließt. Doch es gab so vieles, was einem viel näher lag in den letzten Jahrzehnten: Ob sie den Pott nun morgen dichtmachen würden oder erst in zwei Jahren, ob die Wohnzimmertapete nach der letzten Bergsenkung wieder einen Riß gekriegt hatte, ob die Möhren im Schrebergarten gut gewachsen waren, ob sie dieses Jahr bei den Ruhrfestspielen wieder Statisten brauchen würden...
„Und unser Mutter", sagte die Nachbarin Ruth, „hat uns immer gesagt: Geh nich anne Emscher! Sonz bleibze im Schlamm stecken! Meine Mutter, die hat noch mitgeholfen, den Deich aufschütten, 1916, als die Männer alle im Krieg warn. Die hat noch gesehen, wie die Leute aus Herne mit 'm Roß zum Einkaufen rüber nach Recklinghausen fuhrn."
Geh nich anne Emscher! Geh nich ann Bach! Das bekommen die Kinder zwischen Dortmund und Duisburg noch heute zu hören. Auch die Nebenflüsse der Emscher sind mit Stacheldraht und Verbotsschildern gesäumt. Zu Recht: Alle paar Jahre wird ein Kind beim Spielen in der glitschigen Steinwanne von der Strömung mitgerissen und ertrinkt. Auch ein Erwachsener sieht den schmalen Rinnen oft nicht an, wie gefährlich sie sind: Vor vier Jahren ertrank der Schriftsteller Michael Holzach bei dem Versuch, seinen Hund aus der Emscher zu retten. In seinem Buch ..Deutschland umsonst" hat er sie beschrieben, als stinkenden Styx, als Unterwelts- und Todesfluß.
Und doch hat sie eine geheime Anziehungskraft - wie alles Verrufene und Verdrängte. Was hatte Mark und Dieter aus Aplenbeck dazu getrieben, in einem dunklen Abwasserrohr drei Stunden lang die Hoesch-Werke zu unterwandern? Wo doch die Sache beinahe ein schlimmes Ende genommen hätte, als das Wasser plötzlich anschwoll und sie laufen mußten, um die Emscher noch zu erreichen... Die beiden berichten den Vorfall knapp, sachlich und lustlos, als wär's ein Schulausflug gewesen. Über das Warum verlieren sie kein Wort. Sie starren nur übers Brückengeländer und sehen ihrer Spucke nach, die in der Emscher davontreibt.
Seit dieser Begegnung ist eine Menge Abwasser die Emscher hinuntergeflossen. Ich stand 65 Brücken weiter flußabwärts in Herne zwo, früher Wanne-Eickel, und betrachtete den Sonnenuntergang. Warum ist eigentlich noch kein Maler auf die Idee gekommen, die Abendstimmung über einem Abwasserkanal festzuhalten? Warum immer nur Alpenglühen und Meeresleuchten, warum nicht mal dies: rosa Wolken über schwarzer Brühe, eine Goldkugel zwischen zwei Hochspannungsmasten, vier Eisenbahnbrücken, die sich zu einem surrealen Scherenschnitt zusammenschieben, und schließlich, kurz bevor es Nacht wird, die wundersame Verwandlung eines Schmutzkanals in einen Silberstreif? Jetzt fehlte nur noch eine Flotte weißer Papierschiffchen, die im Mondlicht Richtung Gelsenkirchen treibt.
Ein Nachtgespinst? Nein, ein Tagtraum, den ein Künstler sogar in die Tat umgesetzt hat. An einem Sonntagmorgen vor sechs Jahren hatte er seine „Bootschaft" vom Stapel gelassen, genau an dieser Stelle. Ich besuchte den Künstler Helmut Bettenhausen in seinem Atelier in der ehemaligen Schachtanlage „Unser Fritz", und wir gingen hinaus in seinen Arbeitsraum: über die Halden, durch den Hafen, an der Wanne-Herner Eisenbahn entlang, zum Kanal und zurück an die Emscher. „Hier setze ich meine Zeichen", sagte er. „Weiß auf Schwarz: Einen Küchenstuhl auf einem Kokshaufen, eine Kunststoffahne auf ein Schachtgerüst, weiße Schiffe auf den schwärzesten Fluß der Welt."
„Warum denn hier", fragte ich, „hier guckt doch nie einer!" Und plötzlich fiel mir auf, daß wir schon zwei Stunden durch die dichtest besiedelte Stadt des Reviers gewandert waren, ohne einem Menschen zu begegnen. Als ob sie sich peu à peu davongeschlichen hätten, um die steinernen und stählernen Zeugen vergangener Wirtschaftswunderjahre dem Rost und den Unkräutern zu überlassen.
„Täuschen Sie sich nicht", sagte der Künstler. „Die Förderräder stehen still - aber rundum bleibt alles in Bewegung. Es wird unauffällig weiter gebuddelt, aufgeschüttet, abgerissen,"
„Auch die Zechen?" fragte ich.
Er zeigte mir ein Foto: weißer Pflock auf schwarzem Koks. „Ich habe ihn sofort wieder mitgenommen", sagte er. „Sonst wäre er längst verschütt gegangen."
Die Emscher war so schwarz wie immer, als ich zu ihr zurückkehrte. Und je mehr ich mich ihrer Mündung näherte, desto mehr erlebte ich, daß man keine Scheu hat, ihren Namen zu verwenden: die Zentraldeponie Emscherbruch, den Schacht Emschermulde, die „Emscher-Husaren von Gelsenkirchen-Horst, die in ihren Glanzzeiten sogar Schalke 04 das Fürchten lehrten. Wieder überquerte ich eine Stadtgrenze und kam in eine begrünte Halde namens Emscherpark; ich beeilte mich, diesen Zipfel Essener Gebiets zu durchqueren, um zur Emscher-Kläranlage Bottrop zu gelangen - aber ich erreichte sie nicht mehr.
Als ich Karnap verließ, war es Nacht, und ich hatte die letzte, die unmöglichste aller Spielregeln erfüllt: Ich war in der Emscher gewesen. Nicht kopfüber natürlich. Nur mit den Händen. Ich harte ihr Wasser durch die Finger rinnen lassen, hatte es mit der hohlen Hand geschöpft und mir sogar unter die Nase gehalten. Es war die Emscher, wie sie der Kleingärtner Rudi Möller aus seiner Pumpe hinterm Deich anzapft. Das Wasser in dem Plastikeimer war fast durchsichtig und rötlich. Aber auf der Oberfläche schwamm ein feiner Ölfilm, und darüber schwebte, unverkennbar, das Emscher-Aroma.
Viele Karnaper Kleingärtner haben es schon auf der Zunge gehabt. Bei Rudi Möllers Nachbarn gab es letztens wieder Blumenkohl ans eigenem Anbau. Aber diesmal blieb er auf dem Teller liegen, denn „datt schmeckte, als häzze direkt inne Emscher gebissen". Daran, sagte der Nachbar, war aber nur der trockene Sommer schuld, in dem das Abwasser fast pur, ohne geschmacksmildernde Beimengung von Regen, ins Grundwasser sickerte.
Die Kleingärtner würden ihr Gemüse noch heute mit Brunnenwasser begießen, schließlich waren sie seit 50 Jahren an den strengen Geruch gewöhnt, wie sie sich im Laufe ihres Lebens an vieles gewöhnt hatten: An die schwarzen Stippen auf der Wäsche, damals, als die Schlote noch keine Filter hatten, an Gerüche, die sich noch heute aus allen Himmelsrichtungen über Karnap ballen, bei Westwind vom Müllheizkraftwerk, bei Nordwest von der Kokerei Prosper in Bottrop und bei Südwind aus der Emscher.
Gewöhnt haben sie sich an die Spritzer auf dem Kaffeetisch im Garten, die immer von den Kraftwerks-Kühltürmen herüberwehen, schließlich sind sie noch mit ganz anderen Wassern gewaschen: 1946 war der Emscherdeich gebrochen, tagelang konnten sie nur mit Booten und Flößen zum Einkaufen, wochenlang dauerte es, bis sie die schwarze Schlammschicht wieder von den Tapeten gekratzt hatten.
„Und dann haben sie den Deich geflickt und erhöht", sagte Rudi Möller. „Immer wieder erhöht, bis wir den Fluß nur noch vom Dachfenster aus sehen konnten, Aber wer wollte den schon sehen. Wir waren doch froh, wenn wir die Brühe da hinten so weit wie möglich vergessen konnten."
Er stützte sich auf seinen Spaten. „Und eines Tages", fuhr er fort, „rückt da plötzlich so'n Trupp vonne Stadt an. Zapft alle Brunnen an und sagt, es war zuviel Nitrat drin. Paar Tage später sagen sie, sie hätten sich verrechnet, das Wasser, war in Ordnung, Und zuletzt kommt die Emschergenossenschaft, fährt uns alle nach Bottrop und führt uns am Modell vor, wie dicht unser Deich ist. Als ich gefragt hab, ob wir die Brunnen nun wieder benutzen können, wo doch alles dicht ist, da hamse so gedruckst und gesagt: Ach nee, wissen Se, nehm Se's lieber ausse Leitung."
„Nee, nee" – er stieß den Spaten in den Boden -„die könn" mir nix erzählen. Ich bin Feuerwehrmann, versteh was von Pumpen und Wasserdruck, dat kommtoch alles ausse Emscher."
Während er das hochgepumpte Wasser in den Brunnen zurückgoß, erzählte er, daß die vom Kraftwerk jetzt eine Hochspannungsleitung über sein Dach führen wollen, von 380000 Volt, „Da kann doch keiner mehr schlafen, bei dem Brummen! Klar wollen wir protestieren. Aber ich kenn dat doch, dat bringt genausowenig wie bei der Emscher. Schließlich musse dich doch dran gewöhnen."
Gewöhnen! Die Menschen aus dem Emschergebiet benutzen das Wort wie eine Beschwörungsformel. „Da gewöhnt man sich dran", sagte die Dame auf der Brücke in Castrop-Rauxel über den „schäbbigen"' Duft. „Da gewöhnze dich dran", sagten die Leute von Hochlarmark mit Blick auf die schwarte Halde. „Da jewöhnste dich dran". sagte die Frau, die vor der Kokerei Oberhausen-Osterfeld ihren Kartoffelacker harkte. „Erst hat mich der Russe aus Ostpreußen vertrieben, dann der Emscherschnellweg aus Osterfeld. Nur den Jarrten haben se mir jelassen. Nu, was soll's", sagt sie und betrachtet die bunten Schwaden, die aus den Kokereischloten quellen, „den Fortschritt der Technik kannste nich aufhalten."
Der Satz klang mir noch in den Ohren, als ich nach allen Abschweifungen und Umwegen zum letztenmal über der Emscher stand, auf der Brücke des Mündungsklärwerks. Wie eine riesige Teerlache quält sie sich dahin, nur dem unaufhaltsamen „Fortschritt der Technik" mit seinem ausgeklügelten System von Pumpen und Druckrohrleitungen ist es zu verdanken, daß sie noch fließt, daß sie nicht längst auf der Strecke geblieben ist. Der Ingenieur erklärte mir, wie der moribunde Patient namens Emscher auf der Intensivstation gepflegt wild: Eine Grob-und Feinrechenanlage muß er passieren, in zwölf Sandfang- und 18 Vorklärbecken wird er ruhiggestellt und in 24 Belebungsbecken über perforierte Perbunanschläuche mit reinem Sauerstoff begast. Man verabreicht ihm Mikroorganismen und schickt ihn nach einer letzten Ruheperiode in den 72 Nachklärbecken wieder in sein Bett zurück.
Der Fortschritt der Technik, Die Emscher mündet, laut Emschergenossenschaft, „fast“ so klar in den Rhein, wie sie in Holzwickede entspringt. Die zehn Prozent aber, die sich nicht herausfiltern lassen, reichen immer noch, um den Rhein auf dieser Seite um eine Gewässergüteklasse zurückzuwerfen. 90 Prozent aller Zutaten bleiben immerhin im Klärschlamm stecken, der dann über eine lange Leitung in die „Zentrale Schlammbehandlungs-Anlage" in Bottrop verfrachtet und dort erhitzt, gepreßt und verbrannt wird.
Was steckt alles drin in einem Liter Emscher? Der Ingenieur zählte auf: 40,0 Milligramm Ammoniak und organischer Stickstoff. 2,0 mg Nitrate/Nitrit, 2.1 mg Phenole, 4,6 mg Tenside, 4,2 mg Phosphor, 0,02-0,07 mg Schwermetalle... ja, und natürlich Wasser, das immer noch über 99 Prozent ausmacht. Die Liste ist noch lang, man kann nicht jedes Keimchen, jedes Kohlestäubchen einzeln aufzählen. Manchmal kommt Größeres hinzu, ein Autoreifen, eine Schaufensterpuppe, ein Stück Brückengeländer.
Wer gibt Zutaten hinein? Dieser Teil des Rezepts ist Betriebsgeheimnis der 354 Mitglieder der Emschergenossenschaft. Genaues läßt sich ohnehin nicht sagen, es kommt vor, daß jemand in Gelsenkirchen klammheimlich 200 Liter Altöl abkippt oder des Nachts mal eben die Filter auswechselt. Aber bei Kilometer 20 hat sich das Verbotene längst in der Masse des Erlaubten aufgelöst.
Was ist erlaubt? Erlaubt ist ungefähr alles; und das ist vielfältig wie die Fabriklandschaft zwischen Ruhr und Lippe, in der es, von Textil- abgesehen, alle Art von Industrie gibt.
„Allerdings", sagte der Ingenieur, „die Produktion geht zurück, die Einwohnerzahlen auch. Der Rückgang der Abwassermenge macht uns etwas Sorge."
..Warum denn", fragte ich, „das hieße doch, daß die Emscher einmal wie der sauber ist!" Der Ingenieur sah mich verblüfft an, „Das ist nicht vorgesehen", sagte er. „Schließlich besteht sie selbst zu zwei Dritteln aus Abwasser. Natürlich, man könnte vor jedes Rohr einen Filter setzen, aber das würde viel zu teuer, außerdem - wozu hätten wir dann vor zehn Jahre die größte Kläranlage Europas gebaut?"
Wie hieß es doch im ersten und einzigen Lied über die Emscher: „Kleine Schwäne / komm gut an im Rhein / ich trink auf dein Wohl / beim Ludwig noch ein Bier!"
Der Dichter aus Castrop-Rauxel würde seine „Schwatte" hier in Dinslaken nicht wiedererkennen. Wenige Meter vor ihrer Mündung stürzt sie über ein Wehr und wird schlohweiß. Was aus Tausenden von Waschmaschinen in sie hineingeflossen ist, schäumt jetzt auf und schiebt sich als dicker Teppich zur Rheinmitte hin.
Am Rheinufer saß ein Angler und hielt seinen Haken geduldig in die Lauge. ,.Und ob es hier Fische gibt", sagte er. „Beim letzten Wettangeln hab ich noch die Königskette gewonnen! O ja, man kann sie auch essen. Natürlich haben sie ihren eigenen Geschmack, aber daran gewöhnt man sich."
Auf dem Grunde des Plastikeimers lag etwas Silbriges. Fast war ich versucht, ihn zu fragen, ob er mir... es wäre die letzte Möglichkeit, all die vielen Abwege, Umwege und Verstöße gegen die Regel des „Immer am Bach lang'' mit einem Mahl wieder wettzumachen: sich ein Stück Emscher in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Ich sah zu, wie der Wind ein paar Schaumflocken an der steinernen Böschung emportrieb. Wir schwiegen uns ein paar Minuten an, der Angler und ich. Dann drehte ich mich um und ging. Man kann ein Spiel auch zu weit treiben.
Quelle: Johanna Romberg, GEO, 01.07.1987
Bilder: Emschergenossenschaft